Gummi-Kur

20.07.2004

 

Artikel aus: Motorrad14/2004 v. 18.06.2004  Seite 58-64          Von Werner Koch; Fotos: Markus Jahn,  Koch
R E I F E N    Folge 4
(zu den Testergebnissen und
Reifenempfehlungen hier klicken)

Diagonalreifen für Youngtimer in der
Dimension 3.25 H 19 und 4.00 H 18

DIE GUMMI-KUR
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Meist aus sentimentaler Nostalgie küsst man die Schätzchen aus der Jugendzeit wieder wach. Für die flotte Ausfahrt mit dem alten Eisen empfehlen sich taufrische Reifen mit prima Grip und heilender Wirkung gegen schaukelnde Fahrwerke.

Sie auch ? Nach langem Suchen und Stöbern in Ebay und Anzeigenblättern endlich der Entschluss: Die wird´s, und sonst keine. Ein Prachtstück aus den siebziger Jahren, als das Geld knapp war und Traumbikes ein Traum blieben. Jetzt endlich steht es in der Garage. Ein echtes Schnäppchen. Na ja, zumindest auf den ersten Blick, die schimmeligen Chromteile werden über den Winter liebevoll aufpoliert, und der Motor erhält eine Ölung, hoffentlich nicht die letzte. Gut für die Optik, gut fürs Gewissen, aber wirkungslos beim ersten Ausritt auf den knochenharten Reifen. Meist schon mit Rissbildung und einer Haftung wie Ledersohlen auf nassem Marmorboden, eiert das gute Stück haltlos über die Hausstrecke. Diesen Traum hat man sich anders vorgestellt.

Doch für solche Fälle gibt es eine Lösung: neue Reifen. MOTORRAD hat die aktuellen Pneus im Trennscheibenformat unter die Lupe, oder besser: unter die Räder genommen. Eine betagte Honda CX 500 musste als Versuchskaninchen herhalten, um auszuloten, welcher neue Gummi der alten Dame tatsächlich auf die Sprünge hilft.

Die Wahl der Honda CX 500 war schnell getroffen.  Viel verkauft und unkaputtbar schnurren noch heute Abertausende von Güllepumpen durch die Republik. Mit klassischer 3.25 H 19- und 4.00 H 18- Bereifung trägt die CX 500 exakt das Format unzähliger Motorräder der siebziger und achtziger Jahre. Das Schöne daran: Die aus Einzelteilen zusammengesetzten Comstar-Räder von Honda kommen mit schlauchlosen Reifen aus, was die unzähligen Montagevorgänge beim Youngtimer-Reifentest entscheidend erleichterte.

Und die CX 500 erlaubt beachtliche Schräglagen, ohne dass gleich der ganze Motor oder die Auspuffanlage auf dem Asphalt aufschlägt. Ganz wichtig, wenn es darum geht, die maximale Haftung der neuen, schmalen Pneus auszuloten. Die wurden, wenn möglich, in der alten Zoll-Dimension gewählt, ansonsten als Ersatzgröße mit metrischen Abmessungen (siehe Kasten Seite 61).

In allen Fällen sind die Reifen in der damals übliche Diagonal-Bauweise ausgeführt. Das heißt, die Karkasslagen verlaufen in einem Winkel von zirka 45 Grad von einem Reifenwulst zum anderen. Bei einigen Typen (Bridgestone BT 45 oder Dunlop GT 501 F) erhielt die Lauffläche eine zusätzliche Gürtellage, den so genannten Dreher, der für mehr Stabilität bei Kurvenfahrt sorgen soll. Bedingt durch die hohe Seitenwand und die schmalen Felgen, müssen Diagonalreifen sehr steif ausgelegt sein. Im Gegensatz zu den auf breiten Felgen aufgespannten Radialreifen, deren sehr niedrige Flanken hohe Elastizität  und Eigendämfpung ohne Stbilitätseinbußen vertragen.

tn_radwechselGetestet wurden alle Reifen mit ein und demselben Motorrad, während eine zweite CX 500 als Räderspender und Ersatzteillager fungierte. Letztere Funktion wurde erfreulicherweise nicht beansprucht, denn, wie erwähnt, unkaputtbar die Güllepumpe und sturzfrei das Testteam.

Teil eins führte durch den Top-Test-Parcours von MOTORRAD mit Slalomstrecke und Kreisbahn, wobei die erreichten Geschwindigkeiten durch ein Satelliten-gestütztes Datarecording und die obligatorische Lichtschranke erfasst wurden. Der Umstieg der Reifentester von der supersportlichen GSX-R 750 (MOTORRAD 11 und 13/2004) auf das altertümliche Krad forderte den ganzen Mann, und so kurbelte die Honda zig Versuchsrunden ab, bevor die erste seriöse Wertung in den PC getippt wurde.

Zum Erstaunen von Pilot und Bodenpersonal segelte die CX 500 mit erstaunlichem Tempo durch die 46 Meter große Kreisbahn. Mit einem maximalen Tempo von 53 km/h doste die betagte Honda auf ihren schmächtigen Reifchen so manchen aktuellen Möchtegern-Flitzer ein. Allerdings nur unter höchst engagiertem Zutun des Reiters, der die schwabbelig unterdämpfte Geabel ebenso ignorierte wie die dampfenden Fußrastengummis und einen sprühenden Funkenregen.  Als nächste Prüfung jagte der Tester die Honda hurtig über wellige Landstraßen, um Pendeln oder Schlingern aufzuspüren.  Mit wenig Erfolg, den in diesem Punkt ließ die CX 500 auf den modernen Gummis nix anbrennen.

Was man beim Test der Kurvenstabilität im Contidrom bei Hannover nicht behaupten konnte. Dort wechseln sich schnelle, lange Bögen, die zum Teil gut über 120 km/h vertragen, mit engen Schikanen ab.  Und da trennte sich die Spreu vom Weizen. Was sich beim Handlingprcours bereits angedeutet hatte, fand nun seine endgültige Bestätigung. Bravourös peitschte die Bridgestone-Paarung durchs Labyrinth,  gefolgt vom Conti TKV 11/12, während sich die restlichen Reifen dem Druck der hohen Seitnkräfte wortwörtlich beugten und mit mehr oder weniger starkem Schaukeln die vorgegebene Ideallinie verließen.

Letzter Teil: der Nässetest, ebenfalls im Contidrom. Immer wieder ein Erlebnis, speziell auf Motorrädern wie der CX 500, die, gemessen am aktuellen Standard, bei aller Liebe eher einer Schiffschaukel als einem Motorrad gleichkommt. Egal, nach einem harten Testtag standen auch im Nassen Sieger und Verlierer fest, durch gemessene Rundenzeiten und vergleichbare Kurvengeschwindigkeiten objektiv in Stein gemeißelt, durch den noch wichtigeren Sensor Popometer mit Wertungspunkten erfasst. Überraschend: die großen Unterschiede zwischen dem Testsieger Bridgestone und den Hinterbänklern von fast 10 Sekunden pro Runde.

Nicht nur die Teilnehmer des Reifentests zeigen, dass viele Hersteller der Nachfrage nach den klassischen Reifengrößen Rechnung tragen –  wenn auch nicht immer mit der technisch möglichen hohen Qualität von Gummimischung und Reifenkonstruktion. Der Markt der Youngtimer boomt, weshalb Metzeler mit dem ME 330 und 550 und Michelin mit ihrem brandneuen Pilot Aktiv ebenfalls die Szene bereichern. Allerdings standen beide Reifentypen nicht  oder noch nicht in den getesteten Dimensionen zur Verfügung.

Fazit: Es lohnt sich durchaus, alte Motorräder neu zu bereifen. Denn nicht nur die sicherheitsrelevanten Kriterien wie Trocken- und Nasshaftung werden durch die hochwertigen Pneus neu definiert, auch der Fahrspaß auf kurvigen Landstraßen erhält durch die hohe Kurven-Performance eine völlig neue Dimension.

link zum reifentest.htm

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